16 June 201617:45
Rede und Antworten des
Außenministers Russlands, Sergej Lawrow, bei der Session des Internationalen
Diskussionsklubs Waldai “Russland und EU: Was kommt nach der strategischen
Partnerschaft, die es nicht gab?” beim Petersburger Internationalen Wirtschaftsforum
am 16. Juni 2016 in Sankt Petersburg
1153-16-06-2016
Ich möchte mich bei Waldai-Klub für die Aufmerksamkeit zu aktuellen
Problemen der Weltpolitik bedanken.
Ich denke, dass das angesehene Publikum, das sich hier versammelt wie
auch bei früheren Veranstaltungen des Waldai-Klubs ziemlich daran interessiert
ist, nach Möglichkeiten zur Verbesserung der Beziehungen zwischen Russland und
dem Westen zu suchen.
Wir suchten nie nach einer Konfrontation. Wir traten immer für einen
gleichberechtigten und gegenseitig vorteilhaften Dialog ein. Was die EU
betrifft, waren wir zur breitesten strategischen Partnerschaft bereit, die
sogar Ende der 1990er-Jahre erklärt wurde. Jetzt hören wir aus Brüssel, dass
Russland kein strategischer Partner mehr ist, obwohl es ein strategischer
Staat bleibt. Solche Wortspiele sind gut bekannt und dahinten steckt meines
Erachtens die Unfähigkeit der EU in dieser Etappe, die Situation zu begreifen.
Wir sahen natürlich „fünf Prinzipien“, die von der Hohen Beauftragten
der EU für Äußeres und Sicherheitspolitik Federica Mogherini als
Herangehensweisen zu den Beziehungen zu Russland in dieser Etappe erläutert
wurden. Wir denken, dass diese Prinzipien keine Antwort auf die Frage „was soll
getan werden?“ geben, sondern das auf Grundlage der Solidarität erreichte
Herangehen der EU deutlich machen, dass die Beziehungen zu Russland in
einzelnen Bereichen möglichst eingeschränkt werden sollen, darunter im
Energiebereich. Zugleich soll das Recht beibehalten werden, uns zum
Zusammenwirken einzuladen, wo dies für die EU vorteilhaft ist. Es ist klar, dass ein solches Herangehen nicht
funktionieren kann. „Business as usual“ ist ausgeschlossen. Brüssel und
Washington wiederholen gerne diese Phrase. Doch wir meinen bereits seit langem
nicht mehr „Business as usual“, wenn wir die Bereitschaft äußern, nur auf
absolut gegenseitig vorteilhafter Grundlage zu arbeiten.
In Bezug auf die Energiekooperation hatten wir eine Reihe sektoraler
Dialoge mit der Europäischen Union, darunter im Energiebereich. Im Januar
reiste der stellvertretende EU-Kommissionsvorsitzende Maros Sefcovic nach
Moskau, der Interesse daran äußerte, den Vollformat-Energiedialog zwischen
Russland und Brüssel wiederaufzunehmen. Darauf folgte nichts. Wir äußerten
natürlich unsere Bereitschaft dazu. Doch bislang bleibt alles wie früher.
Doktrinen im Energiebereich, die die EU annimmt, stellen es direkt zur Aufgabe,
die Abhängigkeit von der Russischen Föderation zu senken. Wir verstehen, dass
ein großer Teil solcher Aufgaben zum Ausbau der Kooperation mit Russland hinter
dem Ozean gestellt wird. Die Amerikaner haben eigene Wirtschaftsinteressen. Es
entsteht der Eindruck, dass die Periode, als die Logik der Nullsummenspiele und
die Forderungen an fast alle Postsowjetstaaten, zu bestimmen, mit wem man ist –
mit „uns“ oder mit „ihnen“, im Ergebnis zur Krise führte, die in der Ukraine
ausbrach. Wir sehen, dass es den Wunsch gibt, diese Situation zu nutzen, um uns
in Europa im wirtschaftlichen Bereich zu verdrängen und die
Nato-Solidarität zu verbessern, die beim Fehlen eines gemeinsamen Feindes
anscheinend nicht fortgesetzt werden kann. Der stellvertretende Gazprom-Chef
Alexander Medwedew kann Ihnen über Energie ausführlicher erzählen.
Ich bin davon überzeugt, dass die aktuelle Krise uns und der EU helfen
wird, zu klären, wie man weiter leben soll. Wir werden uns nicht gekränkt
fühlen, in die Isolation gehen. Die EU ist unser unmittelbarer Nachbar,
wichtiger handelswirtschaftlicher Partner. Ich bin davon überzeugt, dass die
Entwicklung verschiedener Verbindungen in der Wirtschaft, Politik, Kultur und
im Sicherheitsbereich den ursprünglichen Interessen Russlands und der Länder
Europas entspricht.
Der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, betonte in
seinem jüngsten Artikel in der griechischen Zeitung „Kathimerini“ vor seinem
Griechenland-Besuch, dass wir keine unlösbaren Probleme bei den Beziehungen mit
der EU sehen. Das wichtigste ist, auf das Nullsummenspiel zu verzichten und zu
versuchen, sich auf eigene nationale Interessen und nicht auf ausgedachte
Konsens- und Solidaritätsprinzipien zu stützen, hinter denen de facto eine
Möglichkeit der Erpressung seitens der russenfeindlichen Minderheit steht. Wollen wir Dinge bei ihren Namen nennen. Die
Länder, die rein politisch die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen
brechen wollen, bewegen die EU und die Nato auf die unvorteilhafte für beide
Seiten Positionen.
In Bezug auf die Regelung der Ukraine-Krise kann man endlos reden. Es
gibt die Minsker Vereinbarungen. Die Versuche, sie neuzuschreiben, sind
inakzeptabel und unzulässig. Wir hoffen, dass unsere westlichen Partner mit
Kiew arbeiten, zumal die Deutschen, Franzosen und sogar Amerikaner schon müde
von ihren Schützlingen sind, die ein Dokument unterzeichnet, es jedoch nicht
umsetzen wollen. Ich sage erneut, dass wir die Stimmen hochschätzen, die in
Europa öfter zu hören sind, darunter im europäischen Business, das vernünftig
und nüchtern vorschlägt, einen gleichberechtigten Dialog aufzunehmen und nach
gleichberechtigten Kooperationsformen zu suchen.
Vor ein paar Tagen wurde in der Zeitung „Kommersant“ ein Artikel des
Präsidenten der Assoziation der italienischen Industrie in Russland, Ernesto
Ferlenghi, veröffentlicht, der die Notwendigkeit unterstreicht, die wichtige
geopolitische Rolle Russlands de facto anzuerkennen. „Es bleibt nur, die EU
davon zu überzeugen, dass die Beziehungen zu Russland nicht zu vermeiden sind“.
Stellen Sie sich vor, welch einfache Sachen geehrte Personen sagen müssen, um
eine absolut ungesunde Periode in unserer gemeinsamen Geschichte zu überwinden.
Demnächst beginnt das Treffen des Präsidenten Wladimir Putin mit dem
EU-Kommissionsvorsitzenden Jean-Claude Juncker. Wir hoffen, dass dieses
Gespräch hilft, sich in die Richtung zu bewegen, wohin wir auf jeden Fall gehen
sollen, wenn wir uns auf die Interessen der eigenen Länder und Völker stützen
wollen.
Frage: Sie und der EU-Kommissionsvorsitzende Jean
Claude-Juncker unterstrichen heute die große Bedeutung des Dialogs zwischen
Russland und der EU. Es ist klar, dass hier eine große Lösung bislang kaum zu
erwarten ist. Vielleicht sollte man sich auf kleineren Schritten konzentrieren?
Welche konkreten Maßnahmen zur Stärkung des Vertrauens könnte es in dieser Etappe
geben?
Sergej Lawrow: Wir machten eine Inventur der
Beziehungen zur EU. Es gab ein großes Material – „non paper“. Wir wollen es
unseren Kollegen übergeben und vorschlagen, zusammen diese Inventur
vorzunehmen.
Der Dialog wurde nie komplett abgebrochen. Bei den meisten sektoralen
Richtungen treffen sich Experten. Zwar nicht auf Ministerebene, allerdings
werden Expertenkontakte fortgesetzt. Vor kurzem hatten wir eine weitere Runde
des Dialogs zur Einwanderung. Das ist ebenfalls ein Bereich unserer gemeinsamen
Interessen. Indem man Fakten auf dem Papier darlegt, die die heutige Lage
widerspiegeln, wie wir diese Fakten sehen, wie die EU sie sieht, sollte dies
helfen, ein Gespräch zu beginnen, wobei man jede geopolitische Aspekte und
politisierte Rhetorik zur Seite schiebt, weil der Wunsch, diese politische
Spiele zu spielen, kostet sehr viel.
Frage: Herr Minister, der Außenminister der USA, John
Kerry, sagte vor einigen Tagen, dass die Geduld der USA in Bezug auf den
Verlauf der Syrien-Regelung und das Schicksal des Präsidenten Baschar al-Assad
zu Ende geht. Das US-Außenministerium verkündete jedoch später, dass eine
solche Verkündigung keine Drohung war. Wie kommentieren Sie das?
Sergej Lawrow: Ich habe diese Äußerung gesehen. Ich
wunderte mich. John ist gewöhnlich ein geduldiger Politiker. Ich weiß nicht,
was passiert ist. Ich sah ebenfalls Präzisierungen, die der Sprecher des
US-Außenministeriums machte. Allerdings sollte man jedoch eher geduldiger sein,
zumal US-Präsident Barack Obama mehrmals sagte, dass seine Administration die
Politik der „strategischen Geduld“ ausübt.
Was das Wesen davon betrifft, was US-Außenminister John Kerry
beunruhigte, sagte er, dass ihre Geduld wegen der Tatsache platze, dass wir
nicht machen können, was mit Präsident Bachar Assad gemacht werden soll. Doch
wir gaben keine Versprechen. Wir haben vereinbart, dass alle, die an der
Syrien-Regelung arbeiten, sich nach erreichten Vereinbarungen in der
Internationalen Gruppe zur Unterstützung Syriens richten werden, die in den
Resolutionen des UN-Sicherheitsrats festgeschrieben wurden. Ich erinnere daran,
dass dort eine allumfassende Strategie dargelegt wurde, die konkrete Dinge
betrifft, die im Militärbereich unternommen werden sollen (Einstellung der
Kampfhandlungen, Übergang zum Waffenstillstand), im humanitären Bereich und im
politischen Prozess. Die Einstellung der Kampfhandlungen, auch wenn nicht zu
100 Prozent, half beim Abbau der Gewalt.
Was den humanitären Bereich betrifft – während im vergangenen Jahr nur
zwei bzw. drei von 18 belagerten Gebieten einen humanitären Zugang hatten, sind
es in diesen Jahr 15 von 18 Gebieten. Hier spielt eine konstruktive Position
der syrischen Regierung eine riesengroße Rolle. Nicht alles, was von der UNO
vorgeschlagen wird, wird sofort angenommen. Es besteht ein Verdacht, dass ein
Teil dieser Hilfe an die Regime-Gegner gehen kann. Es ist klar, dass die
syrische Regierung sich nicht damit befassen will, was gegen ihre Interessen
gerichtet sein wird.
Doch ich wiederhole, es ist ein Fortschritt zu erkennen. Wo es keinen
Fortschritt gibt, ist es ein politischer Prozess. Ich traf mich gerade mit
UN-Generalsekretär Ban ki-Moon und dem UN-Sondergesandten für Syrien, Staffan
de Mistura. Wir haben darüber offen gesprochen. Der politische Dialog unter
Teilnahme aller syrischen Seiten kann nicht beginnen, obwohl die Resolution
eine inklusive Zusammensetzung der Delegation erfordert. Die Türken lassen die
Kurden nicht zu und der so genannte Oberste Verhandlungsausschuss weigert sich,
die Mitglieder anderer Oppositionsgruppen als gleichberechtigt zu bezeichnen
und fordert, dass nur er als Hauptverhandlungspartei bezeichnet wird. Obwohl in
der Resolution steht, dass bei den Verhandlungen alle syrischen Gruppen
vertreten sein sollen, darunter die Riad-Gruppe, der so genannte Oberste
Verhandlungsausschuss, Moskauer und Kairo-Gruppen, gelingt es nicht, dass sich
diese Menschen an einen Verhandlungstisch gemäß dem UN-Sicherheitsratsmandat
setzen – nicht wegen uns, sondern wegen unserer US-Partner, die ihre
Verbündeten in der Region dazu nicht bewegen wollen. Diese Verbündeten in der
Region haben Ultimatum-Positionen.
Alle wissen sehr gut, dass die Türkei die Partei der demokratischen
Union der syrischen Kurden nicht an den Verhandlungstisch lässt. Sie
verheimlicht es nicht und ist wohl stolz darauf. Diese Gruppe, die sich
Oberster Verhandlungsausschuss nennt, sagt, dass es sich an den
Verhandlungstisch mit der Regierung Syriens nicht setzt, solange die
Bombenangriffe der Positionen der Regime-Gegner nicht eingestellt werden, die
an der Einstellung der Kampfhandlungen teilnehmen wollen. Ich erinnere daran,
dass bereits im Februar, als die Internationale Gruppe zur Unterstützung
Syriens zusammentraf, US-Außenminister John Kerry öffentlich sagte, dass
beschlossen wurde, mit der Einbeziehung der Opposition und der Regierung in den
Waffenstillstand zu beginnen. Das betrifft nicht Dschebhat an-Nusra und ISIL.
Die Gruppierungen, die jetzt territorial von Dschebhat an-Nusra und Islamischen
Staat verschoben wurden, und nicht das Objekt von Angriffen sein wollen, müssen
sich auf dem Boden trennen, diese Gebiete verlassen, damit der Kampf gegen
Dschebhat an-Nusra effektiv fortgesetzt wird und diese Gruppierungen nicht
betroffen werden. US-Außenminister John Kerry sagte dies Anfang Februar. Ende
Februar hatten wir Kontakt auf einer sehr hohen Ebene mit Vertretern der
US-amerikanischen Aufklärungsgemeinschaft. Wir erinnerten sie daran, dass sie
versprochen haben, die Opponenten des Regimes, die mit den USA arbeiten, von
den Stellungen von Dschebhat an-Nusra zu entfernen. Unser Kollege bat um einige
Wochen. Es sind bereits drei Monate vergangen. Jetzt sagen uns Amerikaner, dass
sie es nicht schaffen, diese „guten“ Oppositionellen von diesen Stellungen zu
entfernen und sie weitere zwei bis drei Monate brauchen. Es entsteht der
Eindruck, dass hier ein Spiel läuft und man vielleicht will, Dschebhat an-Nusra
in einer Form beizubehalten und sie danach zum Regimesturz zu nutzen. Ich
fragte Kerry direkt danach. Er beteuerte, dass dem nicht so ist. Dann sollte
man sehen, warum die Amerikaner mit ihren Möglichkeiten es nicht schaffen, die
Einheiten, mit denen sie arbeiten, von den von Banditen und Extremisten
kontrollierenden Gebieten zu entfernen.
Es entsteht also ein Teufelskreis. Die Gruppe, die sich „Höchstes
Komitee für Verhandlungen“ nennt, sagt, sie werde nicht mit den Kurden und der
Regierung verhandeln, solange die Bombenangriffe nicht gestoppt worden seien.
Aber die Bombenangriffe zu stoppen, würde bedeuten, diese Gruppe dank des
Schmuggels von Kämpfern, Militärtechnik, Waffen und Munition aus der Türkei zu
stärken. Das alles zeigen wir den Amerikanern. Wir haben jeden Tag
Videokonferenzen zwischen dem russischen Stützpunkt Hmeimim und dem Kommando
der von den USA angeführten Koalition in der jordanischen Hauptstadt.
In Genf wurde ein Gemeinsames Russisch-Amerikanisches Operativzentrum
eingerichtet, das auf Verletzungen der Kriegshandlungen reagiert. All diese
Mechanismen funktionieren übrigens sehr sachlich. Dort gibt es keine
hysterischen Zwischenfälle – anders als in der Öffentlichkeit, wo uns alles
Mögliche vorgeworfen wird. Dort führen wir wahre Fakten an, zeigen Fotos von
diesen oder jenen Gebieten, zeigen, wer und wo sich aufhält, wo das
„Ruheregime“ ausgerufen werden könnte und wo das einfach unzulässig wäre, denn
dann würden wir den Terroristen quasi helfen. Ich hoffe also, dass diese so
lange Beschreibung unserer Beziehungen Ihnen helfen wird, zu verstehen, dass
man uns gegenüber keine Ungeduld zeigen sollte.
Frage: Der ehemalige französische Außenminister
Hubert Védrine sagte völlig richtig, man müsste sich aus der aktuellen „Falle“
in den Beziehungen zwischen Russland und der EU endlich befreien. Davon
sprachen auch der russische Außenminister Sergej Lawrow und der
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Könnten Sie bitte konkrete
Beispiele anführen, wie das gerade jetzt getan werden könnte? Wie wären die
ersten Schritte, um sich aus dieser „Falle“ zu befreien?
Sergej Lawrow: Erstens lassen Sie uns daran erinnern, dass
die Sanktionen noch vor den Minsker Vereinbarungen verhängt wurden. Ich spreche
darüber nur ungern, aber in diesem Kontext erwähne ich sie, nicht um zu zeigen,
was uns gefällt oder nicht, sondern damit man versteht, dass gegen uns solche
diskriminierenden Dinge verwendet werden können. Aus der Sicht der Logik
stecken die Wurzeln der Konfrontation meines Erachtens in viel früheren
Ereignissen, die noch vor der Ukraine-Krise passiert waren. Das zeugt davon,
dass die Politik zur Eindämmung Russlands schon seit ziemlich langer Zeit
ausgeübt wird. Viele Sanktionen wurden von der EU praktisch gleich nach dem
Abschuss der malaysischen Boeing über der Ukraine verhängt. Niemand verlangte
eine Untersuchung. Nur wir bestanden darauf, dass der UN-Sicherheitsrat eine
harte Resolution vereinbart, in der die Forderung zu einer offenen Ermittlung
im Sinne internationaler Standards und zur Benachrichtigung des
UN-Sicherheitsrats über den Verlauf dieser Ermittlung enthalten wäre. Niemand
legte dem UN-Sicherheitsrat einen Bericht vor. Die selbstgebildete
Ermittlungsgruppe unter Beteiligung der Niederländer, Ukrainer und Australier
hat nicht einmal malaysische Vertreter zur Beteiligung daran eingeladen, obwohl
ausgerechnet das malaysische Flugzeug abgeschossen worden war. Seine Vertreter
durften daran erst ab Dezember, also fast ein halbes Jahr später teilnehmen.
Aber die Sanktionen wurden schnell verhängt. Alle hatten den Eindruck, dass es
für diese Sanktionen einen Grund bzw. einen Anlass gab.
Der nächste Block von Sanktionen wurde im September 2014 verhängt, also
drei Tage nach der Unterzeichnung der ersten Minsker Vereinbarungen. Sie wurden
von allen begrüßt. Aber der damalige EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy
unterschrieb die entsprechende Verfügung – ohne das mit den Staats- und Regierungsoberhäuptern
abzusprechen, - die immer noch gilt. Ich weiß, dass einige Staats- und
Regierungsoberhäupter ihm unter vier Augen ihre große Unzufriedenheit mit
seiner im Alleingang getroffenen Entscheidung äußerten, die für die Beziehungen
zwischen Russland und der EU schädlich ist und bleibt.
Die nächste Verschärfung der Sanktionen erfolgte gleich nach der
Unterzeichnung der zweiten Minsker Vereinbarungen. Meines Erachtens hatte die
EU schon seit langer Zeit nach einer Formel gesucht, die diesen Teufelskreis
aufbrechen würde. Und dann wurde erklärt, dass die Sanktionen aufgehoben werden
könnten, wenn Russland die Minsker Vereinbarungen vollständig erfüllen würde.
Wir haben erst jetzt von den Personen, die die entsprechenden Dokumente gelesen
hatten, gehört, dass die Minsker Vereinbarungen vor allem von der ukrainischen
Seite umgesetzt werden müssten. Die meisten von den 13 Paragraphen sind
ausgerechnet an Kiew gerichtet, darunter der Punkt über die Dezentralisierung,
der von der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten
Francois Hollande höchstpersönlich unterzeichnet wurde. Da muss man sich
gar nichts einfallen lassen: Man müsste einfach diese Wortkonstruktionen nehmen
und in einem entsprechenden Gesetz verankern. Die Formulierung, dass die
Sanktionen erst nach der Erfüllung der Minsker Vereinbarungen durch Russland
aufgehoben werden könnten, ist sehr günstig für die Kräfte in der Ukraine, die
nichts tun wollen, egal ob es sich um die Dezentralisierung, Amnestierung der
Teilnehmer der Kriegshandlungen oder den Sonderstatus handeln sollte. Sie
verweigern die Erfüllung aller politischen Punkte der Minsker Vereinbarungen
und sagen, die Sanktionen sollten verlängert werden, weil Russland die
Separatisten nicht zur Waffenstreckung überreden könne. Ich muss aber bitten,
nicht zu vergessen, dass diejenigen, die als Separatisten bezeichnet
werden, die Minsker Vereinbarungen unterzeichnet haben, in denen die
Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine verankert sind. Es ist falsch,
diese Menschen als Separatisten zu bezeichnen.
Auch bei dem gestrigen Treffen der Kontaktgruppe sagten unsere
ukrainischen Kollegen, dass die politischen Punkte der Minsker Vereinbarungen,
die Kiews Verpflichtungen betreffen, erst dann umgesetzt werden, wenn es im
Laufe von mindestens drei Monaten keine einzige Verletzung des
Feuereinstellungsregimes geben würde. Das ist aber einfach unrealistisch. Dort
wird sich höchstwahrscheinlich jemand finden – darunter auf der ukrainischen
Seite, - der ein paar Schüsse macht, und dann wird man wieder drei Monate
warten müssen. Ich möchte, dass unsere Kollegen das begreifen, obwohl die
meisten Europäer, die den Prozess beobachten, das ohnehin verstehen.
Hoffentlich werfen sie dieses Thema bei ihren Treffen mit den ukrainischen
Vertretern auf. Es ist wohl an der Zeit, mit der Sabotage der Minsker
Vereinbarungen aufzuhören und den direkten Dialog zwischen Kiew und der
Donbass-Region zu beginnen, der in diesem Minsker Dokument schwarz auf weiß
festgeschrieben ist. Dort steht nämlich unmittelbar geschrieben, dass das
Gesetz über den Sonderstatus mit diesen Gebieten vereinbart werden muss, wie
auch entsprechende Novellen zum Grundgesetz. Deshalb sollte man immer einsehen,
wo die Wurzeln der aktuellen Ereignisse stecken. Und diese ganze Situation
begann noch vor der Ukraine-Krise.
Erwähnenswert ist die Reaktion unserer amerikanischen Freunde auf die
Situation um Edward Snowden: Damals verlangten sie seine unverzügliche
Auslieferung und machten eine alles andere aus humane Geste. Als wir ihnen
höflich antworteten, dass so etwas unmöglich war, sagte US-Präsident Barack
Obama seine Reise nach Moskau ab, die vor dem G20-Gipfel in St. Petersburg
geplant war. Können Sie sich das Niveau vorstellen, auf dem man sich gekränkt
fühlte? Erwähnenswert ist auch das so genannte Magnitski-Gesetz, das noch vor
den Ereignissen in der Ukraine verabschiedet wurde. Gleichzeitig wurden auch
der Europäischen Union entsprechende Entscheidungen aufgezwungen. Jetzt, wenn
ein unabhängiger Regisseur einen Film über das Fabrizieren des „Falls
Magnitski“ gedreht hat, wurde seine Aufführung im EU-Parlament verboten. Man
wollte ihn auch in den USA verbieten. So ist nun einmal die dortige
Meinungsfreiheit! Mir fällt in diesem Zusammenhang nur das Sprichwort „Das Gesicht
verrät den Wicht“ ein. Meines Erachtens müssten alle verstehen: Die Konkurrenz
wird es schon immer geben, und die Großmächte werden immer die Versuchung
haben, die Situation mehr als mittelgroße Länder zu beeinflussen. Die USA
werden wohl immer behaupten, das Ziel ihres Bestehens sei, immer und in jeder
Hinsicht stärker als alle anderen zu sein. So ist nun einmal ihr genetischer
Schlüssel, aber man muss doch auch realistisch bleiben! Ich darf den früheren
britischen Premier Winston Churchill zitieren, der einst sagte, die USA tun
richtige Dinge immer nachdem sie alles andere probiert haben. Nachdem im Irak
und in Libyen viele Dinge absolut falsch gemacht wurden, bleibt immer noch die
Hoffnung – falls Churchill wirklich Recht hatte, - dass es in Syrien doch
besser gemacht wird.
Frage: Die Europäische Union hat fünf Prinzipien für
die Beziehungen mit Russland formuliert, die meines Erachtens davon zeugen,
dass die EU keine Ahnung hat, wie sich diese Beziehungen künftig entwickeln
müssten. Sie konzentriert sich wieder darauf, was jetzt besteht. Wird Russland
im Gegenzug seine fünf Prinzipien formulieren? Und wenn ja, dann welche?
Sergej Lawrow: Wie auch wohl Sie alle, habe ich diese fünf
Prinzipien gesehen. Als wir mit der EU-Beauftragten für Außenpolitik, Federica
Mogherini, uns im Herbst 2014 am Rande einer OSZE-Sitzung in Belgrad trafen,
sprachen wir darüber, wie die gegenseitigen Beziehungen bestimmt werden
müssten. Sie sagte, sie rechne mit einer kreativen Tagesordnung für die
Beziehungen zwischen Russland und der EU, die in einer EU-Außenministersitzung
gebilligt werden müsste. Passiert ist jedoch das, was eben passiert ist. Wenn
ich mich nicht irre, wurde Russland in nur einem von diesen fünf Prinzipien
erwähnt. Genauer gesagt, dort handelt es sich um die Sicherung der
Unabhängigkeit der EU im energetischen Bereich, um ihre möglichst geringe
Abhängigkeit von äußeren Faktoren, um die Voranbringung der Ost-Partnerschaft –
und das ist gar nicht so harmlos. Meines Wissens gab es Versuche, dieses
Projekt in einen konstruktiven Prozess zu verwandeln, aber die Oberhand
gewinnen offenbar die Absichten, Russland zu verärgern, unter anderem durch die
Freundschaft „gegen uns“ mit unseren Nachbarn. Denn laut einem der Prinzipien
wird die EU nur auf den Gebieten mit uns zusammenwirken, auf denen es für sie
nützlich ist, sowie mit der Jugend arbeiten (damit befasst sich nicht nur die
EU). Das ist ein Programm für die Europäer, aber nicht für ihre Beziehungen mit
Russland. So sieht die EU nun einmal ihre geopolitische Rolle und stellt vor
sich entsprechende Aufgaben. Wir hatten aber das vorgeschlagen, was ich bereits
erwähnte: eine gemeinsame „Inventur“ unserer gegenseitigen Beziehungen
vorzunehmen und die Arbeit aller geschaffenen gegenseitigen Mechanismen zu
analysieren. Russland war das einzige Partnerland der EU, mit dem sie
gemeinsame Gipfeltreffen zwei Mal im Jahr hatte. Selbst in den besseren Zeiten
stellte sich die Frage, ob solche Gipfel tatsächlich zwei Mal im Jahr
organisiert werden müssten. Wir müssen entscheiden, ob wir gemeinsame
Gipfeltreffen brauchen oder nicht. Und wenn ja, dann wie oft sollten sie
stattfinden? Ein Mal im Jahr oder ein Mal in zwei Jahren, oder vielleicht drei
Mal im Jahr?
Es gibt den Ständigen Rat der Partnerschaft, wo der russische Außenminister
und das Oberhaupt der EU-Diplomatie alle Kooperationsrichtungen im Rahmen
des Partner- und Kooperationsabkommens analysieren sollen. Als Catherine Ashton
die EU-Beauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik war, konnte sie kein
einziges Mal eine Sitzung des Ständigen Rats durchführen. Wir trafen uns
spontan, sie sprach dabei über den Nahen Osten oder irgendwelche andere
Krisensituationen, aber wir haben nie über unsere gegenseitigen Beziehungen
gesprochen, was eine äußerst wichtige Funktion dieses Mechanismus ist.
Jetzt werden wir mit dem EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker
sprechen, und Präsident Wladimir Putin wird ihm hoffentlich vorschlagen, eine
solche gemeinsame „Inventur“ vorzunehmen und festzustellen, ob wir Dialoge in
einzelnen Bereichen brauchen oder nicht.
In seiner Rede sprach der Direktor des Zentrums für
Integrationsforschungen bei der Eurasischen Entwicklungsbank, Jewgeni
Winokurow, darüber, dass viele Vollmachten (insgesamt ungefähr 140) der Bank
überlassen werden. In der Europäischen Union ist diese Zahl noch größer, doch
die Kommission will noch mehr. Unsere Kollegen aus analytischen Unternehmen
erwähnten das nicht, aber es entstehen sehr große Spannungen angesichts der
Absicht der Kommission, sich in bilaterale Verhandlungen, darunter zwischen
Unternehmen, einzumischen. Meines Erachtens sollte die Situation auch innerhalb
der EU neu eingeschätzt werden.
Russland wird vorgeworfen, es wolle eine Spaltung der EU auslösen, weil
es nicht mit der Europäischen Union verhandele, sondern mit einzelnen Ländern,
die eine Sympathie für Russland empfinden. Aber was sollten wir denn tun? Wir
können uns nicht von Europa vollständig trennen, denn es ist unser nächster
Nachbar und zudem unser größer Handelspartner. Und wenn die Kommission die
Kommunikationswege mit uns auf Eis gelegt hat, werden wir natürlich vor allem
mit nationalen Regierungen sprechen.
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